SAGEN AUS DER OBERLAUSITZ
Es war einmal ein Jungfräulein aus einem nahen Städtchen, die war so nett, so zart und fein, es war ein hübsches Mädchen! Die ging einst nach dem Oybin hin, um sich dort umzuschauen. Auch wollte sie mit frommem Sinn im Kirchlein sich erbauen. Dort sah das schöne Jungfräulein ein junger Mönch aus Schwaben, der glaubt' es wär' ein Engelein und wollte es gleich haben. Das Jungfräulein erschrack gar sehr und machte sich von hinnen. Der Mönch jedoch lief hinterher, als wär' er nicht bei Sinnen. Und fort ging es im schnellsten Lauf, da plötzlich halt sie macht. Ein jäher Abgrund that sich auf, doch resolut sie dachte: "Ach was, nur Muth, bald ist's gethan, ich spring hinab zu Erden. Ich hab' ja einen Reifrock an, das kann so schlimm nicht werden!" |
Und kaum gedacht, war sie auch schon hinab mit einem Satze. Der liebestolle Klostersohn zerkratzte sich die Glatze. Dem Jungfräulein der Sprung gelang, sie eilte rasch nach Hause. - Der Mönch schlich sich mit leisem Gang in seine stille Klause. |
Der Jungfernsprung
In der Lausitz unfern der böhmischen Grenze ragt ein steiler Felsen, Oybin genannt, hervor, auf dem man den Jungfernsprung zu zeigen und davon zu erzählen pflegt:
Vorzeiten sei eine Jungfrau in das jetzt zertrümmerte Bergkloster zum Besuch gekommen. Ein Bruder sollte sie herumführen und ihr die Gänge und Wunder der Felsengegend zeigen; da weckte ihre Schönheit sündhafte Lust in ihm, und sträflich streckte er seine Arme nach ihr aus. Sie aber floh und flüchtete, von dem Mönche verfolgt, den verschlungenen Pfad entlang; plötzlich stand sie vor einer tiefen Kluft des Berges und sprang keusch und mutig in den Abgrund. Engel des Herrn faßten und trugen sie sanft ohne einigen Schaden hinab.
Andere behaupten: Ein Jäger habe auf dem Oybin ein schönes Bauermädchen wandeln sehen und sei auf sie losgeeilt. Wie ein gejagtes Reh stürzte sie durch die Felsengänge, die Schlucht öffnete sich vor ihren Augen, und sie sprang unversehrt nieder bis auf den Boden.
Noch andere berichten: Es habe ein rasches Mädchen mit ihren Gespielinnen gewettet, über die Kluft wegzuspringen. Im Sprung aber glitschte ihr Fuß aus dem glatten Pantoffel, und sie wäre zerschmettert worden, wo sie nicht glücklicherweise ihr Reifrock allenthalben geschützt und ganz sanft bis in die Tiefe hinuntergebracht hätte.
(Brüder Grimm, Deutsche Sagen, Nr. 321: Der Jungfernsprung.)